Systembiologie: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
Ein Zellorganell, die Zelle, das Gewebe, ein Organ oder der gesamte Organismus – sie werden erst durch das komplexe Zusammenspiel vieler Moleküle lebendig. Diese Komponenten in ihrer Gesamtheit zu verstehen, ist die Aufgabe der Systembiologie. Das Verständnis, wann welche Faktoren innerhalb einer biologischen Einheit zusammenwirken, vollzieht sich dabei über mehrere Ebenen, von der Genomik über die Proteomik bis hin zur Metabolomik. Aber auch wenn alle quantitativen Messungen im Labor abgeschlossen sind, ist es bis zum Verständnis komplexer Lebensvorgänge noch weit. Erst mithilfe der Mathematik und der (Bio-)Informatik können am Computer Modelle entstehen, durch die Abläufe und Wechselwirkungen sichtbar und nachvollziehbar werden.
Wie geht die Systembiologie vor?
Der interdisziplinäre Forschungsansatz Systembiologie soll helfen, experimentelle und theoretische Erkenntnisse in einem Modell zu vereinen, Prozesse zu simulieren und darauf aufbauend auch Vorhersagen zu ermöglichen. Molekularbiologen, Mediziner oder Biochemiker übernehmen dabei die Erzeugung der experimentellen Daten: Welche Gene sind wann in einer Zelle aktiv? Welche mRNA-Transkripte und Proteine sind zu einem Zeitpunkt vorhanden? In welcher Konzentration liegt ein Molekül in einem Zellkompartiment vor? Welche Transport- und Signalwege laufen in der Zelle ab? Liegen diese Daten für die einzelnen Zelltypen eines Gewebes vor, können Vorgänge innerhalb des Gewebes und in der nächsthöheren Ebene innerhalb eines Organs modelliert werden usw.
Diese Daten möglichst präzise zu erfassen, erfordert Messsysteme, die immer höheren Ansprüchen genügen müssen. Dabei werden im Labor elektrophoretische und chromatografische Trennverfahren und hochauflösende Messmethoden wie die Echtzeit-PCR, Massenspektrometrie sowie DNA- und Proteinchips eingesetzt. Je genauer die Messung, desto besser gelingt die Modellierung und umgekehrt. Aufgabe der Theoretiker ist es, im nächsten Schritt die experimentellen Daten in mathematische Formeln ‒ vorwiegend Differentialgleichungen ‒ einzubinden und so mit Rückkopplungen und Regeln Computermodelle zu erzeugen. Aus den immensen Datenmengen, die im Labor (in vitro und in vivo) entstanden sind, lassen sich dann realitätsnahe Hypothesen formulieren, die mathematisch modelliert und mithilfe der Computersimulation (in silico) überprüft werden können.
Mit dem umfangreichen Verständnis eines Organs, beispielsweise der Leber, sind große Erwartungen für die Entwicklung neuer Therapien verbunden, aber auch Erkenntnisse darüber wie sich Krankheiten entwickeln oder Zellen entarten. Auch die biotechnologische Forschung profitiert von diesen umfangreichen Analysen. So lassen sich anhand von Simulationen die Syntheseverfahren zur Gewinnung von Feinchemikalien oder Fermentationsprozesse optimieren.
Systembiologische Forschung in Deutschland
Aufgrund des enormen Innovationspotentials genießt die Systembiologie innerhalb der Hightech-Strategie der Bundesregierung einen hohen Stellenwert. Im Juni 2013 existierten in Deutschland zehn systembiologische Projekte, die das BMBF fördert.
Als Pilotprojekt wurde 2004 das Kompetenznetz „HepatoSys“ mit dem Ziel, eine „virtuelle Leberzelle“ zu generieren etabliert. Damit wurden Standards für weitere Projekte geschaffen. Für jedes Forschungsprojekt, ob national oder transnational, gelten heute weltweit gültige Richtlinien, denen jedes Forschungsprojekt genügen muss. Einheitliche Methoden zur Generierung, Dokumentation, Speicherung und für das Management von Daten und Modellen sind erforderlich und dienen dem Ziel, die bereits vorhandenen Datenbanken einzelner Komponenten wie Zellen oder Proteinen auch um Informationen über Interaktionspartner dieser Komponenten zu erweitern.
Das Netzwerk „virtuelle Leber“ führt diese Mission seit 2010 fort, um Physiologie, Morphologie und Funktion der menschlichen Leber in einem Modell zu vereinen.
Mit FORSYS und FORSYS-Partner wurden Zentren und Arbeitsgruppen aufgebaut, die interdisziplinäre Expertisen und Technologien zur Ausbildung von Systembiologen ermöglichen. Damit wurden wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche systembiologische Forschung in der Zukunft geschaffen.
Die Systembiologie stellt methodisch und technologisch hohe Anforderungen an die quantitative Analyse von Prozessen in Zellen. Dazu wurden die Fördermaßnahmen „QuantPro“ (Quantitative Analyse zur Beschreibung dynamischer Prozesse in lebenden Systemen, 2006) und darauf aufbauend „SysTec“ (Neue Methoden in der Systembiologie, 2009) initiiert.
Ein weiterer Schwerpunkt der Systembiologie ist mit 18 Verbundprojekten die biomedizinische Forschung („MedSys“, 2009). Die Therapie von Erkrankungen wird häufig durch ein komplexes und nicht einheitliches Krankheitsbild erschwert. Neben der Entwicklung neuer Therapieansätze arbeiten Forscher verstärkt an Biomarkern, die eine genauere Diagnose ermöglichen und den Verlauf von Krankheiten mit Hilfe definierter Parameter abbilden können. Auch weit verbreitete genetische Unterschiede, die den Verlauf einer Erkrankung beeinflussen und die individuellen Behandlungsmöglichkeiten (Individualisierte Medizin) mit einfließen zu lassen birgt enormes Potential, Erkrankungen wirksam zu begegnen. Ergänzt werden diese Fördermaßnahmen im biomedizinischen Bereich durch Systembiologie in der Krebsforschung („CancerSys“, 2011) und Projekten, die das Verständnis von Alterungsprozessen verbessern („GerontoSys I & II“, 2010, 2011).
Auch bioökonomische Anstrengungen profitieren zunehmend von systembiologischer Forschung. So unterstützen „BioEnergieSys“ (2008) und Systembiologie der Mikroorganismen („SysMO I & II“, 2006, 2009) die „Nationale Forschungsstrategie Bioökonomie 2030“. Auf europäischer Ebene werden Beiträge zu Bioenergie, Biotechnologie und Agrikultur über die Fördermaßnahmen von „ERASysBio+“ (2009) unterstützt. 2011-2013 wurde die Förderung innovativer Projekte um den e:Bio-Innovationswettbewerb erweitert.







