Volkskrankheiten – die große Gemeinschaftsaufgabe

Mit den „Volkskrankheiten“, den häufigsten Erkrankungen, die innerhalb einer Gesellschaft auftreten, sind nicht nur enorme Versorgungsaufwendungen verbunden, sie bilden gleichzeitig die Schwerpunkte der Gesundheitsforschung. Ob Krebs, Diabetes, Infektionskrankheiten, Lungen-, neurodegenerative oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – jede Erkrankung erfordert ein spezifisches Konzept, das Diagnose, Behandlung, Medikation und Nachsorge mit einschließt.

Bild zeigt: Röntgenbild des Herz-Kreislauf-Systems
Erkrankungen des Herzens können zahlreiche Ursachen haben. / Foto: iStockphoto

Diese Faktoren umfassend zu erforschen und daraus geeignete Strategien abzuleiten ist die Aufgabe von Forschern wie Molekularbiologen, Biochemikern, Biotechnologen, Medizintechnikern und natürlich Medizinern. Um alle erforderlichen Ressourcen bereitstellen zu können, die besten Wissenschaftler ihres Fachs zusammenzubringen und die Erkenntnisse aus der Forschung noch schneller in den medizinischen Alltag zu integrieren, wurden im Zuge des Rahmenprogramms „Gesundheitsforschung“ seit 2009 sechs Zentren zur translationalen Erforschung von Volkskrankheiten gegründet. An insgesamt 27 Standorten arbeiten mehr als hundert beteiligte Hochschulen, Universitätskliniken und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen an der Zukunft unserer Gesundheit und der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Ganzheitliche Herz-Kreislauf-Forschung
Das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) vereint 26 Einrichtungen an sieben Standorten. Grundsätzlich ist die Herz-Kreislauf-Forschung heute schon sehr weit. Um das Innovationspotential dieser Forschungsrichtung noch weiter auszubauen, sind die Forscher auf große Studien, Patientenregister und Biomarkerdatenbanken angewiesen. Um diesen interdisziplinären Ansatz umzusetzen, existieren übergreifende Forschungsinitiativen, an denen alle Standorte und externe Forschungseinrichtungen beteiligt sind. Parallel dazu verfolgt jeder Standort Forschungsschwerpunkte wie erbliche und entzündliche Herzerkrankungen (Kardiomyopathien), Herzversagen, Herzrhythmusstörungen, Prävention oder bildgebende Verfahren.

Konkret untersucht wird beispielsweise, welche Umweltfaktoren, genetischen Faktoren, Art von Ernährung oder Viruserkrankungen die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (HKE) beeinflussen. Um auch den Langzeitverlauf von HKEs zu beurteilen und molekulare, klinische und laborchemische Parameter zu erfassen, wurde die „German Prevention Study“, ein internationales Forschungsprogramm, ins Leben gerufen. An den Standorten Göttingen und Hamburg arbeitet man an einem Ansatz, der für viele Herzinfarktpatienten mit großen Hoffnungen verbunden ist: dem „Pflaster fürs Herz“. Hierbei handelt es sich um eine regenerative Therapie, bei der Stammzellen zu Herzgewebe herangezüchtet werden. An anderen Standorten wiederum konzentriert man sich auf die sogenannte MicroRNA-Therapie, einer Möglichkeit mithilfe von RNA-SchnipselnRNA-Schnipseln
RNA (= Ribonukleinsäure) ist ein wichtiger Informations- und Funktionsträger in Zellen und besteht aus einer einzelsträngigen Nukleinsäure, die im Aufbau der DNA sehr ähnlich ist. Sie besteht ebenfalls aus einem Zucker-Phosphatrückgrat und einer Abfolge von vier Basen. Beim Zuckermolekül handelt es sich aber um Ribose und anstelle von Thymin enthält RNA die Base Uracil. Man unterscheidet drei Untergruppen (mRNA, rRNA, tRNA) die alle bei der Proteinbiosynthese wichtige Aufgaben erfüllen.
krankhaften Umbauprozessen des Herzgewebes entgegenzuwirken.

Infektionsforschung
Wie schafft es eigentlich ein VirusVirus
Infektiöses Partikel, das aus einer Proteinhülle besteht und entweder DNA oder RNA als Erbinformation enthält. Da Viren sich nicht selbstständig vermehren können, dringen sie in andere Organismen ein (infizieren sie) und programmieren deren Stoffwechsel zur Produktion von Virusbestandteilen um. Viren infizieren Zellen von Eukaryonten und Prokaryonten.
mit einer überschaubaren Anzahl von Eiweißmolekülen das komplexe und hochentwickelte Immunsystem des Menschen zu unterlaufen, Gewebe massiv zu schädigen oder gar tödlich zu sein? Mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigen sich über 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den sieben Standorten des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF). Grundlagen zur Ausbreitung von Krankheitserregern, Wirten und Überträgern einer Infektion werden dabei in epidemiologischen Studien erfasst und der klassischen Feldforschung entnommen. Die Hauptanliegen der Infektionsforschung umfassen − unabhängig davon, um welchen Erreger es sich handelt – zumeist die Erforschung von AntibiotikaAntibiotika
Medikamente, mit denen Infektionskrankheiten behandelt werden, die durch bakterielle Erreger oder Protozoen verursacht werden.
(gegen Bakterieninfektionen), Virostatika (gegen Virusinfektionen) und Methoden zur Eindämmung von Epidemien.

Schwerpunkte der DZIF bilden die Forschung an HIVHIV
HIV (Human Immunodeficiency Virus) ist der Erreger der Immunschwächekrankheit AIDS. HIV ist ein Retrovirus, bei dem die Erbinformation aus RNA besteht. Zur Vermehrung des Virus wird die RNA zunächst in der infizierten Zellen in DNA „zurück umgeschrieben“ (revers transkribiert) und dann fest in das Genom der Wirtszelle integriert.
/AIDSAIDS
Acquired Immune Deficiency Syndrome (erworbenes Immunschwächesyndrom)bezeichnet das Endstadium einer HIV-Infektion, bei der das Immunsystem zusammenbricht.
, Malaria, Virushepatitis, Tuberkulose, Magen-Darm-Infektionen, Zoonosen (Krankheiten, die häufig vom Tier auf den Menschen übertragen werden wie SARS oder Dengue-Fieber), Influenza (Virusgrippe), Infektionen mit Staphylokokken (zum Beispiel MRSA), Infektionen mit gram-negativen BakterienBakterien
Die Bakterien sind mikroskopisch kleine einzellige Lebewesen, die keinen Zellkern besitzen und deshalb auch als Prokaryonten zusammengefasst werden.
und Infektionen von Menschen mit eingeschränktem Immunsystem. Fachübergreifend wird an der Infektionskontrolle und ImmunisierungImmunisierung
Als Immunisierung wird das aktive Einbringen eines Immunogens in den Körper bezeichnet, das eine Immunreaktion auslösen soll. Bei einer Schutzimpfung geschieht dies durch abgeschwächte Krankheitserreger, die den Körper anschließend vor einer Infektionskrankheit schützen sollen.
gearbeitet.

Konkret forscht man am DZIF derzeit an antiviralen Medikamenten gegen Hepatitis B und C. Weiterhin stehen Infektionen im Zusammenhang mit Transplantationen bzw. immunsupprimierten Patienten im Fokus der Forschung. Um der Ausbreitung von Antibiotika-resistentenAntibiotika-resistenten
Medikamente, mit denen Infektionskrankheiten behandelt werden, die durch bakterielle Erreger oder Protozoen verursacht werden.
Bakterienstämmen entgegenzuwirken, werden große Anstrengungen unternommen beispielsweise das Potenzial von Naturstoffen zu erfassen und daraus neue AntibiotikaAntibiotika
Medikamente, mit denen Infektionskrankheiten behandelt werden, die durch bakterielle Erreger oder Protozoen verursacht werden.
zu entwickeln. Eine Initiative der DZIF ist der Aufbau einer neuen Substanzdatenbank, der Antiinfektivaplattform zur Erschließung potenzieller neuer Wirkstoffkandidaten. Auch der Aufbau und die Integration von Hochsicherheitslaboren, die von mehreren deutschen Forschungsinstituten gemeinsam genutzt werden können ist Anliegen der Zentren der Infektionsforschung.

Lungenforschung
In 18 Einrichtungen an fünf Standorten konzentriert sich das Deutsche Zentrum für Lungenforschung (DZL) darauf, die derzeit wenigen verfügbaren Therapien für Lungenpatienten schnellstmöglich zu erweitern und in diese Entwicklung vor allem die zahlreichen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung der letzten Jahre einfließen zu lassen. Acht Krankheiten stehen im Zentrum des Forschungsinteresses: Asthma und Allergien, die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), zystische Fibrose (Mukoviszidose), Lungenentzündung, diffus-parenchymatöse Lungenerkrankungen, Lungenhochdruck, das Atemnotsyndrom und Lungenkrebs. Trotz der Vielzahl an Lungenerkrankungen und damit verbunden deren vielfältigem Erscheinungsbild lassen sich drei Forschungsschwerpunkte ableiten: Entzündungsprozesse bei infektiösen und nicht-infektiösen Erkrankungen, Reparaturprozesse und Proliferationsprozesse im Zusammenhang mit dem Gasaustausch in der Lunge.

Im Besonderen wird auch hier am Aufbau umfassender Datenbanken aus großen Kohorten, zum Beispiel Gewebeproben von COPD-Patienten, gearbeitet. Deren genetische Analyse im Zusammenhang mit der Erkrankung soll die Entwicklung gezielter neuer Therapieformen ermöglichen.

Auch Hilfe für Lungenpatienten im Endstadium einer Erkrankung, die bereits auf Transplantationen warten oder auf externe Sauerstoffversorgung angewiesen sind, steht im Zentrum der Forschung. Die „Biohybridlunge“, eine aus Stammzellen gezüchtete Ersatzlunge, könnte eines Tages auch diesen Patienten neue Hoffnung geben.

Kampf gegen den Krebs
„Was gibt es Neues gegen Krebs?“ Eine Frage, die aufgrund des extrem vielfältigen Erscheinungsbildes kaum einfach zu beantworten ist und auf die es entsprechend des Krankheitsbildes tausende Antworten gibt. Diese extreme Diversität spiegelt sich in den für die Krebsforschung weltweit typischen Großforschungszentren wieder, in Deutschland an den acht Standorten des Konsortiums für translationale Krebsforschung (DKTK).

Wann und wie Zellen entarten, ist eine der zentralen Fragen der Grundlagenforschung. Hauptaugenmerk des DKTK ist es, vielversprechende Forschungsergebnisse in die klinische Prüfung zu überführen. Dazu wurde beispielsweise die Clinical Communication Plattform gegründet, um Patienten für klinische Studien zu rekrutieren, inklusive Aufbau einer Biobank und eines klinischen Krebsregisters.

Die Institute des DKTK teilen sich sieben Forschungsprogramme zu zentralen Themen der Krebsforschung: Signalwege in der Krebsentstehung, Molekulardiagnostik, Krebsimmunologie und Immuntherapien, Stammzellen, Strahlentherapie und Bildgebung, Behandlungsresistenz, Prävention und Früherkennung. Gearbeitet wird an weiteren Plattformen, die zum Beispiel die Methoden für verschiedene Standorte verfügbar und damit die später erhobenen Daten vergleichbar machen. Gleichzeitig fördern diese Plattformen den Informationsaustausch zu laufenden Projekten und führen zu Standards für zum Beispiel ein Genomscreening (die Analyse der DNADNA
DNA (engl. Abk. für Desoxyribonukleinsäure) ist die Trägerin der Erbinformation und enthält in Form von Genen die Bauanleitungen für Ribonukleinsäuren (RNA) und Proteine, die für die Regulation aller biologischen Prozesse in der Zelle notwendig sind. Die DNA wird aus einer doppelsträngigen Nukleinsäure gebildet, die strickleiterartig in Form einer Doppelhelix organisiert und aus Nukleotiden aufgebaut ist. Jedes Nukleotid besteht aus einem Zucker (Desoxyribose), einem Phosphatrest und einer von vier organischen Basen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin.
eines Menschen, eines Tumors etc.). So soll im späteren Klinikalltag die individuelle Analyse von Tumorgewebe durch komplette Erbgutsequenzierung etabliert werden und gezieltere Therapien ermöglichen.

Ansätze des DKTK bestehen auch darin, medizintechnisch die Innovationen der Strahlentherapie zu nutzen. Im Labor forscht man an Möglichkeiten, die (zum Beispiel nach einer Ersttherapie) im Körper verbliebenen Tumorstammzellen zu mobilisieren und zu bekämpfen. Um das Immunsystem von Patienten zu aktivieren, untersucht man (Tumor-)Impfungen aus Immunzellen, die zuvor im Labor durch eigenes Tumorgewebe zur Antigenpräsentation aktiviert wurden.

Mit Blick auf neue Präventionsstrategien arbeitet das DKTK auch verstärkt daran, die Bevölkerung zu sinnvollen Vorsorgeuntersuchungen zu motivieren.

Diabetesforschung
Das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung (DZD) basiert auf einem Zusammenschluss von fünf Forschungseinrichtungen und fördert Kooperationen zwischen Grundlagenforschern und klinischen Forschern. Für die erfolgreiche Zusammenarbeit der Wissenschaftler wurden vier Schwerpunkte definiert, die vor allem individualisierte Präventionsstrategien aus klinischen Studien entwickeln, zum Beispiel indem neue Biomarker identifiziert werden. Biomarker dienen der Früherkennung und Verlaufsbeobachtung einer Erkrankung und sollen helfen, die Aussagekraft des Diabetes-Risiko-Tests zu verbessern. Die Suche nach genetischen und metabolischen Parametern soll einerseits zur Vorbeugung von Diabetes-Folgeerkrankungen genutzt werden, andererseits auch helfen, die molekularen Ursachen der Krankheitsentstehung noch besser zu verstehen und in neue Therapien umzusetzen. In diesem Zusammenhang sind der Erhalt und die Wiederherstellung der Betazellen der Bauchspeicheldrüse von entscheidender Bedeutung, die für die Bereitstellung und Produktion von Insulin sorgen und den Blutzuckerspiegel regulieren. Ziel der Forschung sind auch die Optimierung von Transplantationsmöglichkeiten von Inselzellen (65-80 Prozent der Inselzellen sind insulinproduzierende Betazellen), die Prävention von Schwangerschaftsdiabetes und Impfstrategien für Typ-1-Diabetes.

Neurodegenerative Erkrankungen
Das Deutsche Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) verfolgt an acht Standorten das erklärte Ziel, ebenfalls die translationale Forschung voranzubringen, also Therapien aus der Grundlagenforschung in die Klinik zu überführen. Diese Herausforderung ist im Zusammenhang mit neurodegenerativen Erkrankungen besonders groß, da bislang so gut wie keine Therapien zur Verfügung stehen.

Warum Nervenzellen sterben und Synapsen – die „Schaltstellen“ zwischen Nervenzellen – verschwinden, wird deshalb zum Beispiel bei der Alzheimer Erkrankung molekular untersucht. Auch ist nicht abschließend geklärt, welche Rolle das Eiweiß Amyloid Beta im Verlauf der Erkrankung spielt. Zahlreiche Therapieansätze befinden sich in der Pipeline, während viele Patienten auf den großen Durchbruch hoffen. Neben den Therapieansätzen sucht das DZNE deshalb auch weiterhin nach Möglichkeiten, die Diagnose und Prävention zu verbessern.

Nach wie vor größter Risikofaktor neurodegenerativer Erkrankungen ist das Alter. Bis heute ist nur unzureichend verstanden, welche molekularen Veränderungen im Verlauf des Lebens sich auf die Entstehung solcher Erkrankungen auswirken. So sollen im Zusammenhang mit Parkinson weitere Genvarianten (bislang elf) entschlüsselt werden, die mit der Krankheit in Verbindung stehen. Eines der wichtigsten Großprojekte ist eine Bevölkerungsstudie mit einer Kohorte von über 30.000 Patienten, um Biomarker und Risikofaktoren der Neurodegeneration zu identifizieren. Daraus sollen auch, sofern überhaupt möglich, Präventionsempfehlungen erarbeitet werden.

Bis tatsächlich eines Tages Therapien für sehr viele Patienten zur Verfügung stehen, konzentriert man sich aber auch auf die enorm wichtige Schulung von Patienten und Angehörigen, die den besseren Umgang mit der Erkrankung erlernen. Auf diese Weise kann eine Einweisung in Pflegeeinrichtungen verzögern oder gar verhindert werden.